Das Meer ist süß

Historisches

Ahlbeck

Hier können Familien Kaffee kochen. Paulsbornstimmung. Oder Eierhäuschen in Treptow, Sonntag nachmittags. Stullenpapier in Massen. Kleine Kinder schreien. Man trinkt Versandbier; stippt Streuselkuchen in den Kaffee und hört sich dabei – o du ewig rätselhftes Deutschland – den Abendstern aus dem Tannhäuser an. Alles sehr anständig, manierlich, keineswegs laut; durchaus die bescheidene Gemütlichkeit des wohlanständigen Bürgertums. Doch kenne ich einige Sonderlinge – darunter einen mir persönlich außerordentlich nahestehenden Herrn in mittleren Jahren – die in Ahlbeck nicht dauernd leben möchten. Schon wegen des Bismarckturmes da oben nicht, der genau so aussieht wie ein Patentzigarrenabschneider. Er hat Henkel, um bequemer wegtransportiert werden zu können.

Heilemann Damen in Badekarren
Zeichnung: Ernst Heilemann

Als ich mit dem Dampfer quer über die See nach Hause fuhr, saß neben mir eine romantisch veranlagte Dame und blickte träumerisch in die Wellen.

„Das Meer ist süß“, flüsterte sie einmal nach dem andern.

Vergebens versuchte ich, ihr diesen naturwissenschaftlichen Irrtum auszureden. „Das Meer ist nicht süß“, sagte ich, „es ist salzig. Im Gegenteil ist unsere Spree süß, wovon Sie sich leicht überzeugen können, wenn Sie einmal in der Nähe der Jannowitzbrücke kosten wollten.“

Es half alles nichts; die Dame blickte entzückt und blieb dabei, daß das Meer süß sei.

Mitten auf der Fahrt fing das Schiff an zu schaukeln, und der Dame wurde übel.

„Das kommt von den Süßigkeiten“, murmelte ich und holte ihr einen Emailleeimer.

Victor Auburtin, Berliner Tageblatt 1921

Aus “Sand und Sachsen”, 2000 im Verlag Das Arsenal erschienen, 60 Seiten, ISBN 3 931109 18 6. Eine sehr unterhaltsame Lektüre für den Strand oder den Kaffee auf der Promenade.

Ein Feuilleton über Heringsdorf gibt es hier.