Der Ehemannszug nach Heringsdorf – ein Reiselied

Historisches

Ehemannszug nach HeringsdorfBild: Staatsbibliothek zu Berlin – PK

Der Strohwitwerzug vorgestern war nur der Auftakt, der Ehemannszug aus dem Jahr 1902 bringt erst die volle Dröhnung. Text von Alfred Schmasow und Musik von Victor Hollaender. Das wäre dann wirklich einmal authentische Musik für die Kaisertage. Und in der Staatsbibliothek gibt es sogar die Noten dazu.

Der Ehemannszug nach Heringsdorf

Fängt ach, der heisse Juli an,
Schickt der Berliner Ehemann
Gleich fort sein Weib, wenn’s irgend geht,
Nach Heringsdorf, wo’s kühler weht,
Dass sie sich recht erholen soll,
Sich gänzlich pumpt von Ozon voll
Und sie auch immer badet prompt,
Weil hier man nicht zu kommt.
Er bleibt zurück, mit feuchtem Blick,
Denn er muss ja verdienen,
„Was sie verbraucht!“ Er schmerzlich haucht,
Mit sauersüssen Mienen.
Doch tröstet ihn, wie mir erschien,
Das Wort trotz Abschiedsfieber,
„Mein lieber Schatz, den letzten Schmatz,
Sonnabend komm’ ich ’rüber“.

Am Sonnabend fährt der Ehemann
Nach Heringsdorf, wenn er nur kann,
Voll Lust zu ihr und insofern:
Das ist der Tag des Herrn!

Wenn sie in Heringsdorf dann weilt,
Wird es dem Mann gleich mitgeteilt,
Per Ansichtskarte, weil sich’s lohnt,
Gleich mit dem Häus’chen, wo sie wohnt.
Sind sie ganz jung noch copuliert,
Wird meistenteils gleich telegraphiert,
Doch ist die Lieb’ nicht mehr so tief,
Kommt selten nur ein Brief.
Die junge Frau schreibt ganz genau,
Wie sie es hat getroffen,
Ob ihre Wohnung waldwärts liegt,
Ob nach der See zu offen,
Auch schreibt sie zart nach Frauenart,
Was sie für Möbel hätten.
Und als Postskriptum: „Lieber Mann,
Sehr gut sind auch die Betten.“

Am Sonnabend fährt der Ehemann
Nach Heringsdorf, wenn er nur kann,
Voll Lust zu ihr und insofern:
Das ist der Tag des Herrn!

Im Seebad lebt die Frau dann blos
Vergnügt als wie ein Wonnekloss
Frühmorgens gleich nach dem Kaffee,
Steht sie schon auf und geht in See.
Drauf schlendert sie durch Feld und Flur,
Begleitet stets von Mücken nur,
Auch legt sie lang sich in den Sand
Und macht so allerhand.
Die Kur schlägt dann ganz prächtig an,
Sie wird täglich gesunder,
Ihr Wangenton ward frischer schon,
Sie wurde plastisch runder.
Sie fühlt sich stark bis tief in’s Mark,
Nur abends seufzt sie drüber
Innig beseelt: „Mein Männchen fehlt,
Ach käm er nur erst ’rüber!“

Am Sonnabend fährt der Ehemann
Nach Heringsdorf, wenn er nur kann,
Voll Lust zu ihr und insofern:
Das ist der Tag des Herrn!

Kommt dann am Wochenschluss die Zeit
Wirft sich der Mann in’s Reisekleid,
Kauft eilig Blumen ein noch und
Confect für ihren süssen Mund;
Rennt schon zur Bahn um neun Uhr, hört,
Wenn auch der Zug um elf erst fährt;
Und dass er sie gleich sehen kann,
Rückt er an’s Fenster ’ran.
Kein Auge macht er zu die Nacht,
Er sitzt als wie auf Kohlen,
Fortwährend nur zieht er die Uhr
Und fiebert leis verstohlen.
Dann endlich früh erblickt er sie,
Mit wonnigem Entzücken,
Sie ruft: „Mein Mann!“ Er lacht, und dann,
Entzieh’n sie sich den Blicken.

Am Sonnabend fährt der Ehemann
Nach Heringsdorf, wenn er nur kann,
Voll Lust zu ihr und insofern:
Das ist der Tag des Herrn!

Text: Staatsbibliothek zu Berlin – PK